Isarlauf Leseprobe


Was tut man nicht alles für einen ordentlichen Endorphinschub, dachte Quirin Quast und sah zu den Marathonläufern hinunter.
Als Mediziner und Giftspezialist kannte er viele Methoden, um die Produktion von Glückshormonen anzuregen, aber keine davon hielt er für empfehlenswert: Aus ärztlicher Sicht musste er von den meisten Drogen abraten, Schokolade machte dick, Bungee-Jumping war stillos, sich zu verlieben schlicht gefährlich.
Frieda May, Quasts Mitbewohnerin, griff nach der Tupperdose mit dem Wurstsalat und fragte: „Gibt‘s auch Bier?“ Ihr Kleid war getupft, ihr Gesicht entspannt und Quast freute sich, dass sie wieder da war. Frieda hatte ein Jahr in Peru verbracht, wo sie an einem Krankenhaus in den Anden tätig gewesen war. Seit einem Monat war sie zurück und arbeitete wie im Jahr zuvor als Assistenzärztin an der Eisbachklinik.
Frieda und Quast mussten sich erst wieder aneinander und ihr gemeinsames WG-Leben gewöhnen, aber in den wichtigsten Punkten ergänzten sie sich nach wie vor: Quast putzte grundsätzlich nicht, dafür weigerte sich Frieda zu kochen.
Nun lagen sie auf einer Decke oben auf dem Münchner Olympiaberg und schauten hinunter zu den Läufern.
Quast reichte Frieda eine Flasche mit Bügelverschluss, ließ seinen Blick über das satte Grün des Parks schweifen und sah dann zum Stadion hinüber, wo die Marathonläufer ihre zweiundvierzig Kilometer zu Ende brachten. Die Quälerei dort unten war ihm fremd, und doch beobachtete er fasziniert, wie die Sportler sich ihrem Ziel entgegenschleppten. Seiner Überzeugung nach quälten sich diese Leute nur, um möglichst effektiv vom unvermeidlichen Verfall am Ende des Lebens abgelenkt zu sein.
„Woran denkst du?“ fragte Frieda in seine Überlegungen hinein und drückte den Verschluss der Flasche mit dem Daumen auf. Dass jemand tatsächlich ernsthaft diese Frage stellte, erstaunte Quast so sehr, dass er wahrheitsgemäß antwortete: „An den Tod.“
Sie biss in ein Fleischpflanzerl, und sagte nicht unfreundlich: „Das ist doch wohl das Letzte.“
„Der Tod ist das Letzte.“
Sie lag ausgestreckt auf dem Rücken und starrte in den Himmel. Ihr Kleid faltete sich um ihren Körper; mit einer Hand tastete sie nach einem Radieschen und steckte es sich in den Mund. Quast sah ihr dabei zu, froh darüber, dass sie für den Rest des Tages frei hatten; ein langer Samstagnachmittag lag vor ihnen.
Sie waren beim Heraufsteigen an Obstbäumen vorbei spaziert und hatten versuchsweise in einen der kleinen rötlich-grünen Äpfel gebissen, die herabgefallen waren. Jetzt erstreckte sich die Ebene zum Münchner Norden vor ihnen: Neben dem Olympiaturm hing eine sehr weiße Wolke, auf den Dächern des Stadions blitzten silbrige Lichtreflexe, die zeltförmigen Konturen hoben sich scharf vom Blau des Himmels ab. Ganz nah ragte phallisch der BMW-Vierzylinder, weit hinten erkannte man die eher weiblichen Formen der Allianzarena.
Die staubige Hitze des Sommers war vorbei, und nur der Föhn bescherte ihnen einen letzten warmen Septembertag.
Um diese Uhrzeit war die spätsommerliche Morgenfeuchtigkeit längst verdunstet und hatte eine durchsichtige Herbstluft zurückgelassen, die so sauber und klar war, dass Quast ein Gefühl des Unwirklichen beschlich.
München befand sich im Marathon-Fieber. Hatten sich früher nur einzelne Fanatiker auf diese Quälerei eingelassen, so war heute die halbe Stadt auf den Beinen. Quast und Frieda warteten auf Karl Zitzelsperger, Quasts ältesten Freund, der sich heute zum ersten Mal an den zweiundvierzig Kilometern versuchte, und Friedas Freundin Nasrin, die nur 10 Kilometer mitlaufen wollte. Während Quast die leeren Flaschen klirrend in einen Jutebeutel warf, sah Frieda träumerisch hinunter zu dem Asphaltband, das sich jenseits des Sees durch den Park schlängelte. Dann packten sie die Überreste ihres Picknicks gemeinsam in Quasts berggrauen Leinenrucksack und begannen mit dem Abstieg.
Vor den Acryl-Zelten des Olympiastadions wurde das Tempo der Heranlaufenden inzwischen deutlich langsamer, die Bäuche der Athleten dicker, die Haare dünner. Sie mussten sich beeilen. Zügig stiegen sie den Berg hinunter und schlängelten sich durch zum Coubertin-Platz.

Je näher sie der Strecke kamen, desto lauter wurde es. Aus riesigen Lautsprechern dröhnte Musik, ein Moderator kommentierte das Geschehen über ein Mikrofon und feuerte die Athleten auf ihren letzten Metern an. Das Publikum pfiff, rasselte und schrie.
Etwas Buntes tauchte nach einiger Zeit weit hinten auf: Die Klinik-Clowns trugen tatsächlich Perücken und rote Nasen auf der Strecke. Ihre Verkleidung kaschierte, wie abgekämpft sie sein mussten. Quast hoffte, dass sie sich nur für den Ziellauf kostümiert und nicht zweiundvierzig Kilometer lang in die falschen Haare geschwitzt hatten.
Direkt hinter den Clowns trabte Karl heran.
Er trug zerschlissene weite Baumwollshorts, darüber ein ausgeleiertes T-Shirt mit der Aufschrift: „Der Tag geht, Johnny Walker kommt.“ Zwischen den ausgemergelten Siebzigjährigen und den übergewichtigen Dreißigjährigen in ihrer hautengen atmungsaktiven Kleidung wirkte er wie aus der Zeit gefallen.
Als er auf sie aufmerksam wurde, lief er bleich und schwer atmend heran. Statt eines Grußes hob er nur die Linke ein wenig, deutete ein Grinsen an und war schon an ihnen vorüber. Sie sahen ihm nach, bis er mit steifen Schritten im Marathontor verschwand.
Das Publikum feuerte alle herankeuchenden Athleten gutmütig an. Da waren Rentner, die auf ihrem Sonntagsspaziergang einen Schlenker hierher gemacht hatten, um einen Blick auf nackte Frauenbeine zu erhaschen, Kinder, die ihre erschöpften Papas erwarteten, sogar ein weiterer Clown, der, selbst eindeutig zu schwergewichtig um zu laufen, vermutlich hier war, um seine Kollegen anzufeuern.
„Hallo“, sagte da jemand hinter ihnen und das dunkle Timbre ließ Quast aufhorchen. Als er sich umdrehte und direkt in schwarze, von hellen Punkten durchsprenkelte Augen schaute, erkannte er Nasrin Hamemi. Er zwang sich, seinen Blick aus ihrem zu lösen, kam aber nicht umhin, an ihr hinunterzusehen und ihre sehr kurzen Shorts zu bemerken. Sie hatte einen Beutel mit der Aufschrift Isarlauf 2013 über der Schulter und wirkte wie frisch geduscht. Einen Moment lang wusste er nicht, wohin mit seinen Augen und tastete nach seinen Zigaretten. Zu diesem Zeitpunkt hatte auch Frieda die Freundin bemerkt und begrüßte sie überschwänglich, so dass Quast sich entspannen konnte. Er stand neben den plaudernden Frauen, die gar nicht bemerkten, wie verunsichert er war.

Dass etwas nicht stimmte, registrierte Quast erst, als Frieda mitten im Satz innehielt. Er folgte ihrem Blick und sah weiter weg den schweißüberströmten Rücken eines Läufers, der mit nacktem Oberkörper auf dem Asphalt kniete. Der Mann drohte kopfüber nach vorne zu fallen; man merkte selbst aus der Entfernung, dass er schwankte. Ein Zuschauer trat heran und versuchte den Mann hochzuziehen, ein anderer kam hinzu und noch einer. Bald erkannte man nur noch die hektische Geschäftigkeit; der Kollabierte war zwischen der Ansammlung von Wohlmeinenden nicht mehr zu erkennen.
Nasrin schien von all dem nichts bemerkt zu haben – Frieda aber ließ ihre Gruppe ohne ein weiteres Wort stehen.
„Ja spinnst du?“, fragte Quast und zog sie zurück. Frieda schaute ihn entgeistert an. „Du willst doch wohl nicht da hin?“
„Klar als Ärztin ich bin doch ver- – “
„Nichts bist du. Da schau, da kommen schon die Sanis.“
„Aber als Ärzte – “
„Nix als Ärzte, wenn bei so einer Aktion was schief geht, bist du dran. Gschaftel nicht schon wieder herum. Das ist nicht das erste Mal, dass sich einer überschätzt.“
„Ich kann nicht glauben dass, dass du so – “
Er fiel ihr ins Wort: „Du bist naiv, Frieda. Hier gibt es Ärzte. Die sind hier im Einsatz, die sind versichert. Und wir nicht. So ist das.“
Und da nannte sie ihn tatsächlich einen feigen Spießer – vor ihrer schönen Freundin – und stieg über die Absperrung. Kurz trafen sich ihre Blicke. Ihr Ausdruck verhieß nichts Gutes. Nasrin aber rührte sich nicht.
Er hatte es geahnt. Die Frau hatte Stil.

*

Frieda ließ Quast stehen. Dass sich gerade ihr Mitbewohner hinter diesem trägen deutschen Vertrauen auf den jeweils Zuständigen zurückzog, gefiel ihr gar nicht.
Sie schlüpfte zwischen murrenden Menschenkörpern durch, wurde das ein oder andere Mal angerempelt, drängelte jedoch unbeirrt weiter. Schließlich stand sie vorne und spürte die bösen Blicke der umstehenden Gaffer.
Neben dem Kranken kniete bereits ein Sanitäter. Entschlossen trat sie heran, tippte dem Mann auf die Schulter und sagte, als er sie irritiert von unten ansah: „Ich bin Ärztin, brauchen Sie Unterstützung?“
Sie spürte, wie der Blick des Mannes an ihr herunter wanderte und ärgerte sich über ihr gepunktetes Kleid, das sie noch jünger aussehen ließ. „Danke, wir bringen ihn jetzt nur ins Sanizelt, da wird er versorgt.“ Er wandte sich ab, ehe sie antworten konnte.
Sie errötete und schaute, um den Blicken der Umstehenden auszuweichen, auf den Kranken herab: Halb nackt und Schweiß überströmt lag er da und ächzte. Er hatte sich übergeben, man roch es. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er um sich, abwesend und agitiert. Als der Sanitäter den Mann an der Schulter fasste leise auf ihn einredete, stöhnte der Kollabierte auf und schlug um sich. Gerade noch konnte der Sanitäter der klobigen Uhr am Handgelenk des Mannes ausweichen. Der aber wand sich weiter, während die Umstehenden weiter regungslos um die Szene herumstanden. Zum Glück schien man sie schon wieder vergessen zu haben. Als der Sanitäter fragend zu seinem Kollegen aufblickte, wusste Frieda, was er dachte: Doping. Erst in diesem Moment erkannte sie den Mann: Es war Kijan von Sydow, Nasrins Bruder. Frieda wurde kalt.